Blau ist das neue Grün

Blau ist das neue Grün

Gletscher und Antarktiseis schmelzen, der Meeresspiegel beginnt zu steigen, Arten sterben aus, die Zahl der Insekten und vieler Tiere geht zurück, Brennstoffe, Nahrung und Trinkwasser werden knapp. Das ist alles wahr und lässt sich mit Messungen belegen.

Aber dann gehen Sie durch Ihren Ort, reden mit Ihren Mitmenschen. Sie sehen zufriedene Gesichter, Wohlstand, erwachendes Frühlingsgrün und Vogelgezwitscher in den Gärten. Sie staunen über volle Regale in den Läden und ein unerschöpfliches Angebot von allem.

Der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx meint, dass wir gerade einen epochalen Umbruch erleben. Die grünen Bewegungen, entstanden in der Naturromantik des 19. Jahrhunderts, weitergeführt in der Hippie- und Alternativbewegung, dann als politische Partei, haben die Mitte der Gesellschaft erreicht. In Stadt und Land benutzen Menschen die Früchte von Industrialisierung und Digitalisierung, betrachten die Entwicklung aber gleichzeitig kritisch.

Das beruht auf uralten mythischen Mustern, die nicht nur im Christentum eine Rolle spielen: Eigentlich ist Natur heil, sogar heilig, aber wir Menschen haben uns gegen sie versündigt. Horx nennt es „das Dogma der existenziellen Knappheit“: Es kann nie für alle reichen! Wir sind zu viele. Wir nehmen uns zu viel. Das muss mit allen Mitteln begrenzt werden, notfalls mit harter staatlicher Gewalt. Ein hoher Preis für einen fragwürdigen Gewinn.

Inmitten dieser Schuldlogik aber keimt gerade neues Denken, das sich fragt: Sind möglicherweise nicht die Ressourcen der Erde knapp, sondern die unserer Vorstellungskraft? Was wäre, wenn Rohstoffe nicht wirklich begrenzt wären? Wenn wir legitime Mitgestalter unseres Planeten wären, und ihn nicht durch unsere pure Existenz zerstören? Dann begänne ein anderes Zukunftsspiel. Horx nennt es die Blaue Ökologie.

Blau ist die Farbe des Horizonts, der Atmosphäre, des offenen Meeres und eines umgekehrten Denkens. Bei der Suche nach Lösungen geht Blaue Ökologie nicht aus vom Mangel, sondern von der Fülle. Die Sonne strahlt 15.000mal so viel Energie auf die Erde, wie die Menschheit benötigt. 1 Prozent davon wird dabei in Windenergie umgewandelt – allein dieser Anteil ist das 150-Fache des Weltenergiebedarfs. Die Menschheit hat weniger Biomasse als die auf der Erde lebenden Ameisen. Würden alle 7,8 Milliarden Menschen in einer Stadt mit der Siedlungsdichte Frankfurts leben, wäre diese Riesenstadt nicht größer als Deutschland.

Blaue Ökologie ist nicht Zwang zum Verzicht, sondern lustvolle Befreiung vom Zuviel. Wer weniger Fleisch isst, kann den Sonntagsbraten viel mehr genießen. Wer fahrradfreundliche Städte wie Kopenhagen besucht, vermisst nicht Autos in der Innenstadt, sondern genießt, was stattdessen möglich wird. Michael Braungart, Erfinder der erfolgreichen Cradle-to-cradle-Bewegung („von der Wiege zur Wiege“) berät Unternehmen, wie sie Produkte von Anfang an so konzipieren, dass sie am Ende ihres Produktlebens nicht Müll sind, sondern sich daraus neue Produkte machen lassen.

Initiativen wie Ziel 21 in unserem Landkreis träumen nicht von einem enttechnisierten Paradiesgärtlein mit einer Handvoll Ureinwohner, sondern einem nachhaltig bewirtschafteten, liebenswerten Flecken Erde mit allem: Städte, Dörfer, Wälder, Windräder, Photovoltaik, Internet, Fernsehen und kostenlosem bruckfrischen Lesestoff.

Werner Tiki Küstenmacher ist evangelischer Pfarrer im Ehrenamt, Karikaturist, Buchautor und wohnt mit seiner Frau, der Autorin Marion Küstenmacher, in Gröbenzell.

 

Eine Arbeitsstelle reicht nicht

Eine Arbeitsstelle reicht nicht

Morgens, mittags, abends

Morgens, mittags, abends