Wenn KI einen zu Tränen rührt

Wenn KI einen zu Tränen rührt

Früher habe ich wie ein Verrückter Gitarre gespielt und gesungen, meine Solos auf der Stratocaster waren sensationell. Zumindest für mich. Inzwischen schnarren die Saiten, weil ich ungenau greife. Meine Stimme wackelt, ich schaffe keine hohen Töne mehr, und die meisten Stücke habe ich verlernt. Ich höre gern Musik, aus allen Epochen. Aber oft gefallen mir die Texte nicht, egal in welcher Sprache. Genau für solche Typen wie mich gibt es jetzt: Musik von der Künstlichen Intelligenz, KI.

Probier’s doch mal, hatte mir ein Freund geraten. Ich wählte den Marktführer Suno.com und staunte, als ich dort ein Feld fand, in das ich den Text eingeben konnte, der gesungen wird. Die meisten Leute lassen sich faulerweise die Lyrics von der KI schreiben. Aber ich stieg hoch ein und ließ mir große Lyrik von Angelus Silesius oder dem Sufi-Mystiker Dschelaleddin Rumi vertonen. Hohe Erwartungen hatte ich nicht. Das wird halt so eine Computerstimme sein.

Von wegen. Ich war von dem Gesang ergriffen. Mit der „Sie haben Ihr Ziel erreicht“-Stimme vom Navi hat das nichts mehr zu tun. Suno singt akzentfrei in Deutsch und vielen anderen Sprachen, mit Gefühl für die Bedeutung der Worte und Sätze. Ok, es gibt einen typischen künstlichen Suno-Sound. Aber der entsteht nur am Anfang, wenn man zu konventionell promptet, also etwa „country rock ballad, male singer“ eingibt.

Meine Frau und ich haben mit KI ein neues Hobby gefunden: Texte aus der Weltliteratur der Mystik im Voice-of-Germany-kompatiblen Stil vertonen. In einem Gottesdienst habe ich die Ergebnisse vorgeführt, und den Menschen sind sie ans Herz gegangen. Es war eine Emotionalität im Raum, die mit den Gesangbuchmelodien aus dem 17. Jahrhundert nicht mehr zu erzeugen ist. Dass Gesang, Rockband und Orchester aus Algorithmen stammten, habe ich allerdings erst am Schluss verraten. Denn die Vorurteile gegen KI sind groß. Was erstaunlich ist, entstehen die Klänge der Hits doch seit Jahrzehnten in Computern, und Singstimmen werden digital verschönert.

Der US-Profimusiker Jonny Keeley gab den Text seines selbstkomponierten Lieblingssongs bei Suno ein. Viele konventionelle Versionen kamen heraus. Aber bei einer war er zu Tränen gerührt. „I tried to hate it“, erzählt er in einem 500 000 mal angeklickten Video. So bewegend, mit ungewohnten Akkorden und fantasievoll arrangiert, hatte er sein Lied noch nie gehört. Und spielt es seitdem auf der Bühne in der Suno-Version.

Musikschaffende schlagen Alarm: Wir werden beklaut! Aber besteht Musik, seit es sie gibt, nicht aus dem Übernehmen und Weiterentwickeln von bereits Bekanntem? In einem legendären YouTube-Video führt Musikstar Ed Sheeran vor, dass die meisten Hits aus den gleichen vier Akkorden bestehen.

Suno-Chef Mikey Shulman findet, dass Musik selbst zu machen nicht nur den wenigen vorbehalten sein sollte, die lange dafür gelernt und geübt haben. Da fühle ich mich verstanden. Mit neuer Begeisterung dichte ich Hymnen für Firmen und Geburtstage, und lasse sie als Wiesnhit, Rockballade oder Bachkantate vertonen. Seit langer Zeit habe ich nicht so viel Freude an Musik gehabt wie jetzt mit Suno und der Suche nach guten, singbaren Texten.

Werner Tiki Küstenmacher, Baujahr 1953, evangelischer Pfarrer im Ehrenamt, Karikaturist und Buchautor, lebt in Gröbenzell. Ein Lied zum Probehören: link10.de/FXWV

Hurra, wir leben noch!

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In Europa zuhause,  im Landkreis daheim

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